Die Zähne des Pferdes und ihre häufigsten Erkrankungen

von Dr. med. vet. Peter Stelzer, Berg am Starnberger See

Bereits während der Kriegsjahre (1939 – 1945) hat sich Prof. Dr. Erwin Becker um die Pferdezahnheilkunde verdient gemacht. Er erkannte, dass bei regelmäßiger Gebisspflege pro Pferd und Tag etwa ein Kilogramm Getreide und Heu gespart werden kann. Dieses Getreide stand demzufolge der notleidenden Bevölkerung zur Verfügung. Er führte damals bereits wissenschaftliche Untersuchungen zu Pferdezahnerkrankungen durch und verfügte über ein hochmodernes Instrumentarium. Dieses Wissen lag lange Zeit in Archiven. Wir bemühen uns heute um die Wiederbelebung sowohl des geistige,n als auch des instrumentellen “Know How” in der modernen Pferdezahnheilkunde.

Die meisten Pferdehalter wissen sofort, dass ihr Pferd Zahnprobleme hat, wenn es sog. “Heuwickel” oder Kraftfutterpartikel ausspuckt. Es gibt aber noch eine Vielzahl von Symptomen, die im Zusammenhang mit Erkrankungen der Zähne und der Maulhöhle auftreten wie z.B.:

Kopfschlagen während des Fressens oder Reitens, unspezifische Leistungsverluste trotz Wurmkuren sowie ausreichend Futter und Vitamin- und Mineralzusätze, auffällig viele Futterpartikel im Mist, Maulbluten, unangenehmer Geruch aus Nasenlöchern oder Maul, minimale Kaubewegungen, schlechtes Annehmen des Gebisses beim Reiten und Fahren (“Mauligkeit”), Veränderungen der Trink-und Freßgewohnheiten (langsames Trinken von kaltem Wasser, zögerliche Aufnahme von Futter, Nichtaufnahme von Heu-und Kraftfutter, Schmerzäußerungen bei der Futteraufnahme), aufgeblähter Bauch bei deutlich sichtbaren Rippen, Gewichtsverlust, stumpfes Fell und verzögerter saisonaler Fellwechsel, starkes Speicheln, ungewöhnliche Kopf-, Zungen- und Unterkieferhaltungen, knöcherne Aufwölbungen am Kopf, Fistelöffnungen mit eitrigem Ausfluß im Kopfbereich, Abwehrreaktionen beim Abtasten der Backen (“Laientest”) usw…

Dies ist nur ein kurzer Auszug von Auffälligkeiten im Zusammenhang mit Zahn- und Maulhöhlenerkrankungen.

Zum besseren Verständnis wird im nächsten Abschnitt die individuelle Entwicklung des Gebisses, d.h. der Zahnwechsel und seine Besonderheiten erläutert.

Die Milchzähne des Pferdes sind kleiner als die Permanenten (Bleibenden) und zwar aus folgendem Grund: die Kieferbögen sind beim jungen Pferd noch kleiner und deshalb erscheinen die zunächst perfekt passenden Zähne mit dem fortschreitenden Wachstum zu klein.

Schneidezähne

Die zwei mittleren Schneidezahnpaare (Ober- und Unterkiefer) werden mit ca. 2 1/2 Jahren gewechselt und alle sind nach etwa einem halben Jahr in Reibung (d.h. in Kontakt). Mit ca. 3 1/2 Jahren wechseln die danebenliegenden Paare und mit 4 1/2 die äußeren Schneidezähne. Somit sollte mit 5 Jahren der Schneidezahnwechsel abgeschlossen sein.

Hakenzähne

Die Haken- oder Hengstzähne brechen zwischen 4 und 5 Jahren durch und sind permanente Zähne. Sie finden sich auch gelegentlich bei Stuten, aber in wesentlich kleinerer Form.

Backenzähne

Die Backenzähne werden in Prämolare (12 Stück) und Molare (12 Stück) eingeteilt. Prämolare haben Milchzahnvorläufer und werden gewechselt, Molare brechen als Permanente durch. Die vordersten Prämolaren (je zwei im Ober- und Unterkiefer) brechen mit 2 Jahren, die nächsten mit 3 und die letzten mit 3 Jahren durch. Etwa sechs Monate nach dem Wechsel sollten sie Kontakt mit ihren Gegenüberliegenden haben. Die vier ersten Molaren brechen zwischen 1/2 – 1 Jahren durch und sind mit etwa 2 Jahren in Reibung. Mit etwa 2 – 2 1/2 Jahren brechen die nächsten zwei Paare durch und haben Kontakt mit ca. 3 Jahren. Die letzten vier Backenzähne sind mit 3 – 3 1/2 Jahren sichtbar und mit 4 – 4 1/2 Jahren in Reibung. Insbesondere bei den Molaren gibt es beim Zahnwechsel individuell sehr große Unterschiede.

Der komplette Zahnwechsel sollte spätestens im Alter von 5 Jahren abgeschlossen sein, anderenfalls kann es zu Gebißfehlstellungen kommen.

Wolfszähne

Wolfszähne sind entwicklungsgeschichtlich degenerierte Prämolare Backenzähne. Sie können an jeder beliebigen Position einseitig oder beidseits zwischen Hakenzahn und erstem Prämolaren sitzen (meistens jedoch direkt vor dem ersten Backenzahn). Häufig findet man sie im Oberkiefer, selten im Unterkiefer. Gelegentlich auch unter dem Zahnfleisch, man bezeichnet sie dann als “blinde Wolfszähne”. Mit etwa einem Jahr kann man sie bereits sehen bzw. fühlen. Eine frühzeitige Extraktion (am stehenden, beruhigten Pferd) dieses permanenten Zahns beugt vielen Problemen mit der Trense (“Mauligkeit”) vor.

Alle Schneide- und Backenzähne schieben sich bis zum Alter von ca. 15 Jahren aus ihren Zahnfächern heraus. Es findet ein sog. “Nachwachsen” statt. Tatsächlich sind die bleibenden Zähne von Anfang an in ihrer Länge angelegt und werden lediglich nachgeschoben. Daraus folgt, dass gewisse Zahnfehlstellungen lebenslänglich nachkorrigiert werden müssen.

Bei einer vom Autor durchgeführten Untersuchung an mehr als 1000 Pferden konnten einige bemerkenswerte Ergebnisse festgestellt werden.
Mehr als 95% aller Pferde haben scharfe Kanten und Ecken an den Backenzähnen. Abgesehen von den Schmerzen (Verletzungen der Backenschleimhäute – Maulbluten) zieht diese Erkrankung einen ganzen Rattenschwanz von Folgeerscheinungen nach sich. Die mangelnde Kautätigkeit führt zu schlechter Vorverdauung in der Maulhöhle => frühzeitiges Abschlucken des Bissens => Überladung des Darms => Verstopfungskolik.
Widersetzlichkeit beim Reiten und Fahren; Gewichtsverlust und struppiges, stumpfes Fell durch unzureichende Verwertung (krankhafte Darmflora) des angebotenen Futters; Kopfschlagen durch Ausweichen vor dem Schmerz; tiefe Verletzungen der Backenschleimhäute und deren Entzündung stellen permanente Eintrittspforten für Umweltkeime in den Körper dar etc.

 

Durch die Behandlung der Backenzähne, d.h. die Entfernung der Kanten und Wiederherstellung der Kau- und Quetschflächen sind die angesprochenen Probleme zu lösen.

 

Hartnäckig festsitzende Zahnkappen oder “Reiter” (= Prämolarer Milchzahn) beim jungen Pferd können bereits die Ursache sein für eine spätere Gebißanomalie (Wellen- oder Treppengebiß) und schlechte Futterverwertung (eingepreßte Futterpartikel und daraus resultierende Infektion zwischen Milchzahn und Permanenten). Ebenso können die nachschiebenden permanenten Backenzähne Kräfte entwickeln die zu Auftreibungen (sog. “bumps”) am Kopf und auch Fistelöffnungen mit eitrigem Ausfluß im Bereich der Zahnwurzeln führen. Sie sollten deshalb zum gegebenen Zeitpunkt kontrolliert und evtl. entfernt werden.

Meine Empfehlung für den Pferdehalter

ist eine halbjährliche (bis ca. 3 Jahre) Zahnkontrolle beim jungen Pferd und ab 4 Jahren eine jährliche Kontrolle und gegebenenfalls Behandlung durchzuführen.

Auch die Züchter sollen auf den genetischen Aspekt, d.h. die Vererblichkeit von Gebißanomalien jeglicher Art hingewiesen werden. Sie sind diejenigen welche durch zuchthygienische Maßnahmen zum langfristigen Wohlbefinden der Pferde aus gebißtechnischer Sicht beitragen können. Leider wird dieser Tatsache in der Zucht noch sehr wenig Beachtung geschenkt.